Wetzlar. Die Stadtbibliothek im Herzen Wetzlars war Schauplatz einer inspirierenden Diskussion über die Herausforderungen und Zukunftsperspektiven Europas. Hierfür stand mit dem Politikwissenschaftler und TV-Experten Siebo Janssen ein hochkarätiger Redner zur Verfügung. Souverän moderiert von Sven Ringsdorf, Vorsitzender der Europa-Union Lahn-Dill, wurden nicht nur drängende europäische Themen diskutiert, sondern auch ein Blick auf die globale Rolle Europas geworfen. Die gut besuchte Veranstaltung wurde ermöglicht durch das EU-Informationszentrum im Regierungspräsidium Gießen, die Europa-Union Lahn-Dill und die Stadt Wetzlar.
Nationale Interessen dominieren Europawahl 2024
Zum Einstieg richtete Siebo Janssen den Blick zunächst zurück – auf die Europawahl 2024. Hier zeigte sich ein altbekanntes Muster: Nationale Themen dominierten die Debatte, während europäische Anliegen in den Hintergrund rückten. Janssen erklärte, dies liege vor allem daran, dass in den Mitgliedsstaaten nationale Parteien zur Wahl stünden, die sich erst später zu europäischen Fraktionen zusammenschließen. „Das verschiebt den Fokus zwangsläufig auf nationale Interessen“, erläuterte er.
Dennoch war das Ergebnis bemerkenswert: Während rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte in einigen Ländern Erfolge verbuchen konnten, blieben sie in der Gesamtheit hinter den Prognosen. Janssen sieht hierin ein Zeichen, dass viele Bürger weiterhin auf Europa setzen – trotz des weit verbreiteten Vertrauensverlusts in nationale Regierungen, der Probleme häufig auf die EU-Ebene projiziert. Besonders Themen wie die Energiekrise, Migration und die wirtschaftlichen Folgen des Ukrainekriegs hätten den Wahlkampf geprägt und die Wähler mobilisiert.
Neue EU-Kommission: Zwischen Krisenbewältigung und Realpolitik
Diese Herausforderungen prägen auch die Arbeit der neuen EU-Kommission, die sich unter der Führung von Ursula von der Leyen einer zweiten Amtszeit stellt. Der Experte bezeichnete die knappe Bestätigung von der Leyens durch das EU-Parlament als „schwachen Liebesbeweis“, betonte jedoch, die erste Kommission könne trotz multipler Krisen – von Corona-Pandemie über Ukrainekrieg bis Energiekrise – eine beachtliche Bilanz vorweisen.
Im neuen Arbeitsprogramm für 2024 bis 2029 spiegelt sich laut Janssen eine Rückbesinnung auf realistischere Ziele wider. Die Kommission setze weiterhin auf zentrale Themen wie Klimaschutz, wirtschaftliche Entwicklung und den Schutz der Demokratie vor Desinformation und Populismus. Dabei betonte Janssen, die Ernennung von Kommissaren aus rechtspopulistisch regierten Staaten wie Italien oder Ungarn habe den programmatischen Kurs der Mitte nicht gefährdet – ein klares Signal für die Stabilität der europäischen Institutionen.
Europas Platz in einer turbulenten Welt
Von der Binnenpolitik führte die Diskussion fließend zur globalen Rolle Europas, die angesichts neuer geopolitischer Spannungen wichtiger denn je ist. Janssen zeichnete ein differenziertes Bild: Während die EU sich außenpolitisch mit autoritären Regimen wie Russland und China auseinandersetzen muss, fehlt es intern häufig an Einigkeit und Führung. Die beiden größten Mitgliedsstaaten, Deutschland und Frankreich, seien zunehmend mit ihren eigenen innenpolitischen Problemen beschäftigt.
„Die EU kann nur so stark sein, wie ihre Mitgliedsstaaten es zulassen“, betonte Janssen. Umso wichtiger sei es, dass die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen in dieser Phase Verantwortung übernimmt. Besonders herausfordernd sei der Umgang mit dem anstehenden Regierungswechsel in den USA und der damit verbundenen Unsicherheit über die sicherheitspolitische Ausrichtung Europas.
Demokratie lebt vom Engagement ihrer Bürger
Zum Abschluss der Veranstaltung richtete sich der Fokus auf die Verantwortung jedes Einzelnen – insbesondere der jungen Generation. Sven Ringsdorf betonte in der offenen Diskussion mit den Gästen, wie entscheidend das Engagement in der Zivilgesellschaft sei. Ob in Vereinen, im Ehrenamt oder in der Kommunalpolitik – demokratische Strukturen beginnen vor Ort. „Nur wenn wir Demokratie aktiv leben, können wir ein Gegenmodell zu den autokratischen Regimen der Welt bieten“, lautete der eindringliche Appell.
Die zahlreichen Schülerinnen und Schüler unter den Gästen nahmen diese Botschaft sichtbar engagiert auf. Janssen ergänzte, dass Europa nicht nur ein politisches Projekt, sondern auch ein kulturelles Wertebündnis sei, das von den Menschen getragen werde. Bildung, Weltoffenheit und ein gemeinsames Werteverständnis seien die Schlüssel, um Europas Zukunft zu sichern.